Page 48 - Best_of_StGallen_8_2020
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Wie macht sie das bloss?
Text und Interview: Maximilian Marti Foto links: William Croall Photography
...dachte ich, als ich ihre Stimme am Telefon hörte. Heidi Maria Glössner ist mittlerweile über 76. Die souveräne Grande Dame der grossen Theaterbüh- nen wurde dem einheimischen Film-Pu- blikum bekannt durch ihre Rolle als Lisi Bigler in der international erfolgreichen Schweizer Produktion «Die Herbstzeit- losen». Unter dem brutalen Regime von COVID 19 musste unser Interview telefo- nisch über die Bühne gehen. Die quickle- bendige Stimme aus dem Lautsprecher und der charmante Tonfall passten per- fekt zu Heidi Maria Glössners Bild, das mich von meinem Monitor aus mit strah- lend blauen Augen keck musterte.
Frau Glössner, wie begann Ihre Karriere?
Mein erster Auftritt fand statt, als ich in Nie- deruzwil im Kindergarten war. Wir gaben den «Rattenfänger von Hameln». Ich spielte die Rolle des einzigen Kindes, das sich nicht fangen liess. Ein Omen? Bis heute schätze ich meine persönliche Freiheit. Wie auch im- mer, dort erwischte mich das Theatervirus. Nach dem Auftritt machte ich meinen Eltern klar, dass ich Schauspielerin werden wollte. Sie waren sofort damit einverstanden, vo- rausgesetzt ich würde vorher, getreu dem bewährten Helvetischen Muster, einen rich- tigen Beruf erlernen. Also absolvierte ich die Primar-, Sekundar- und Kantonsschule und machte in St. Gallen das Wirtschaftsgymi. Nach einem Jahr Aufenthalt in Kalifornien liess ich mich in Zürich zur Schauspielerin ausbilden.
Und 1968 standen Sie endlich auf den Brettern, die die ...
Ja, mein erstes bezahltes Pro -Engagement bekam ich hier, im Stadttheater Bern. Ich spielte die Rolle der So e, der Kammerzofe von Lady Milford in «Kabale und Liebe».
Sie sind Schauspielerin seit über einem halben Jahrhundert. Wie hat sich speziell das Theater in dieser Zeit verändert? Die grösste Veränderung sehe ich darin, dass heute nur noch selten – wenn über- haupt – originalgetreu gespielte Stücke aufgeführt werden, wie das früher der Fall und vom Publikum wohl auch so gewünscht
war. Heute versuchen jeder Regisseur und jedes Produktionsteam, alles aus dem ak- tuellen Blickwinkel umzusetzen. Die klassi- sche Form des Theaters, wo quasi ab Blatt gespielt wurde, gibt es kaum noch. Natürlich verlangt das von den Schauspielern eine ge- wisse Anpassungsfähigkeit, was ja der ei- gentliche Kern unseres Berufs ist. In dieser Beziehung bewundere ich die Opernsänger sehr, die dieselbe Gesangs-Rolle immer wieder in anderer Interpretation meistern müssen. Natürlich hilft, dass die unterstüt- zende Musik grundsätzlich dieselbe bleibt, aber der äussere Rahmen kann sich extrem verändern von einer Inszenierung zur nächs- ten. Bei uns Schauspielern kommt es nicht oft vor, dass wir die gleiche Figur immer wie- der in anderer Interpretation geben müssen.
Finden Sie diesen Trend gut?
Absolut. Ich war schon immer sehr offen für Neues und würde es deshalb schrecklich  nden, immer wieder in dieselbe Schub- lade zu greifen, nur weil ich weiss, dass der Inhalt sich bewährt hat. Es ist legitim und wünschenswert, dass man den Stoff aus heutiger Sicht angeht. Was ich nicht mag, sind die Mätzchen, die sich jene leisten, die sich auf Kosten eines Stücks narzisstisch ausleben, bis das Stück mit dem Original nichts mehr zu tun hat und deshalb nicht wiedererkennbar ist. Sowas langweilt mich. Was mich interessiert, ist innovative Inter- pretation mit festem Halt am roten Faden des Stücks.
Sie haben grosse Bühnen- und Kamera- Erfahrung. Was liegt Ihnen mehr?
Die Kamera ermöglicht durch ihre Nähe ein minimalistisches Spiel. Nur schon ein Ge- danke wird ohne Gestik auch in der hinters- ten Reihe des Kinos verstanden. Die Bühne bietet die physische Nähe zum Publikum. Das überwältigende Wechselspiel von Ge- ben und Nehmen durfte ich letztes Jahr erle- ben mit dem Monolog «Das Jahr magischen Denkens» von Joan Didion. 90 Minuten al- leine auf der Bühne zu stehen ist ein Kraftakt an Konzentration – aber die Emotionen des Publikums hautnah zu spüren ist ein Gefühl, das sich durch nichts ersetzen lässt.
Am Theater St. Gallen: «Besuch der alten Dame»
Ist es immer noch Brauch, dass sich das Ensemble anlässlich der Dernière Strei- che spielt, um sich gegenseitig aus der Fassung zu bringen?
Nein – aber da kommt mir «Das Weisse Rössl» in den Sinn. In Luzern spielte ich die Rolle des lispelnden Klärchens. Jemand füllte anstelle des Wassers höllisch scharfen Schnaps in meinen Flachmann, mit dem Re- sultat, dass ich keine Luft mehr bekam, beim Tanzen zusammen mit Sigismund stolperte und einen Stuhl zusammenkrachen liess. Das Publikum brüllte im Glauben, dass wir die Szene so hinlegen wollten. Eigentlich schade, dass es diesen Brauch nicht mehr gibt, aber das gehört wohl auch zu den Veränderungen.
Sie haben einige begehrte Auszeich- nungen erhalten. Welche ist für Sie die schönste?
Es sind zwei: Der Armin Ziegler-Preis, den ich 2017 entgegennehmen durfte für das Lebenswerk und die Ehrenmedaille der Bur- gergemeinde Bern, die mir 2018 verliehen wurde.
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