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 Pionier mit Leidenschaft Text und Interview: Maximilian Marti Fotos: zhdk Es gibt immer wieder Menschen, die beruflich gesichertes Terrain verlassen, um sich einer neuen Aufgabe zu stellen, um sich einen Traum zu erfüllen oder aus purer Abenteuerlust. Die Einen ziehen einfach los in eine ungewisse Zukunft, andere haben eine bestimmte Vorstel- lung und wollen dieser mit unerschütter- lichem Glauben an die Sache und an sich selbst zum Durchbruch verhelfen. Urs Beat Roth gehört zur zweiten Gruppe. Mit totalem Engagement überraschte der studierte Architekt seinen anspruchs- vollen Markt mit neuem Denken und füllte damit eine bisher vakante Nische. 1991 wurde er mit der Herausforderung konfrontiert, der Gesundheit zuliebe sein berufliches Tempo zu drosseln. Vor die Wahl gestellt beschloss er, die Arbeit als Archi- tekt zu beenden, um fortan seine Passion für Geometrie zum Beruf zu machen. So wurde aus dem Mathematiker, Künstler und Archi- tekt in Personalunion, der erste und bisher einzig bekannte «Geometrie-Ingenieur». Seine Kompetenz wird beigezogen, wenn es gilt, räumliche Probleme in Bauprojekten mit Hilfe mathematischer Gesetzmässigkei- ten zu lösen und gleichzeitig die Möglichkeit wahrzunehmen, dem Bauwerk im Innen- oder Aussenbereich mit gestalterischen Elementen eine einmalige und unverkenn- bare Identität zu geben. Herr Roth, was hat Sie zu diesem Schritt bewogen und was macht ein Geometrie-Ingenieur? Der Antrieb war primär die Chance aufzu- zeigen, wie mit meinen gesammelten ma- thematischen Erkenntnissen bauliche Pro- bleme gelöst werden können. Die exakten Wissenschaften, insbesondere Geometrie, faszinieren mich seit meiner frühen Schul- zeit, deshalb forschte ich nebst meinen be- ruflichen Aufgaben schon lange auf privater Basis in diesen Bereichen. Für viele ist Geo- metrie ein «überflüssiges» Fach. Für mich ist sie der Formen-Generator. Als ich mir Gedanken machen musste über ein neues Berufs- und Lebensmodell, erkannte ich die Möglichkeit, mit der Umsetzung mathema- tischer und geometrischer Gesetzmässig- keiten nicht nur räumliche Probleme lösen zu können, sondern auch die Schönheit dieser Gesetzmässigkeiten künstlerisch sichtbar zu machen. Dafür koppelte ich meine langjährige Erfahrung als Architekt zum bestehenden Verständnis für künst- lerische Gestaltung und zum Wissen über Kunst am Bau. Mit dieser Konstellation sah ich mich in der Lage, die Visionen von Archi- tekten, aber auch die Ideen und Bedürfnisse der unterschiedlichsten öffentlichen und privaten Bauherrschaften auf Augenhöhe zu beantworten, zu analysieren, mathematisch zu bearbeiten und auf sinnvolle Weise zu realisieren. Wie ist das zu verstehen? Nehmen wir als Beispiel die Fassade des Vorarlberg Museums in Bregenz. Unter den Exponaten des Hauses sind irdene Trink- tassen zu sehen aus der römischen Antike. Solche Gefässe wurden damals nach ein- maligem Gebrauch weggeworfen analog den heutigen PET-Flaschen. Das Thema wurde von Manfred Alois Mayr künstlerisch konzipiert, ich durfte das Konzept reali- sieren. Auf der Fassade sind über 16000 Abgüsse von 13 unterschiedlichen PET- Flaschenböden zu sehen. Auf den ersten Blick wirkt das Ganze wie chaotisch appli- zierte Braille, aber bei näherem Hinsehen und entsprechendem Blickwinkel entdeckt das Auge diverse korrespondierende Re- gelmässigkeiten, de Facto die wundervolle Schönheit der Geometrie. Dasselbe gilt für die Holzdecke im Mühle- Restaurant der Kartause Ittingen, die Spiral-Treppenaufgänge zur Hardbrücke und grundsätzlich für alles, was mit Hilfe der Mathematik realisiert wurde. Atelier für konkrete Kunst Räffelstrasse 25 8045 Zürich   Kunst am Bau Je nach Kontinent und Kultur wird im Bauwesen mit unterschiedlichen Mit- teln und Stilrichtungen dem Wunsch nach Prestige oder Ästhetik gefolgt. Insbesondere im orientalischen Raum spielt die bauliche Ästhetik traditionell eine grosse Rolle. In unserer Moderne umschreibt der Begriff «Kunst am Bau» eine staatliche oder kommunale Verord- nung, dass bescheidene Prozente der öffentlichen Bausumme freizustellen sind für die künstlerische Bereicherung des Projekts und somit zur Förderung der Kunst. Die Bezeichnung gilt auch für jegliche mit dem Bauwerk verbundene Dekoration oder stilistische Auslebung.  1287 


































































































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