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912 Der elektronische Sonnenuntergang Schäfchenzählen nützt nichts, Honig mit Milch verursacht bloss Harndrang, die beruhi- genden Harfenklänge vom Smartphone sind alles andere als. Und die preisgekrönte Einschlafapp nervt. Weil sie vor allem kostet, der ersehnte Schlaf trotzdem nicht über einen kommen will. Um es gleich vorwegzunehmen: Weniger als man meint ist die Schlaflosigkeit körperlich begründet, häufiger ist der Kopf im Spiel. Um zurück zum süssen Schlummer zu finden, ist dann «einfach» ein Perspek- tivenwechsel vonnöten. Was man für das Problem hält, ist nämlich vielfach keines. Die meisten Menschen kennen Schlaflosig- keit aus eigener Erfahrung. Wenn der Körper schmerzt, der Geist mit einem Problem am Arbeitsplatz oder in der Beziehung beschäf- tigt ist. Dann ist es logisch, wenn man sich im Bett hin- und herwälzt. Doch wenn diese Faktoren verschwunden sind und die Schlaflosigkeit länger anhält, lohnt es sich, fachkundige Hilfe in einem Zentrum für Schlafmedizin aufzusuchen: «Wer zu uns kommt, ist meist am Ende seines Lateins», erklärt Dr. Daniel Brunner. Ein klinisches In- terview mit ausführlicher Anamnese geht der Beratung oder einer allfälligen Registrie- rung des Schlafs voraus. «Wir befragen die Menschen nach ihren Gewohnheiten, stellen allgemeine Fragen zur Gesundheit und schauen auch zurück: Wie war der Schlaf früher? Was hat sich im Leben verändert?» Den Patienten wird bei der schlafmedi- zinischen Beratung zum ersten Mal bewusst, dass sie in einem eigentlichen Teufelskreis Dr. Daniel Brunner stecken. Denn je grösser die Anstrengungen sind, schlafen zu wollen, desto weniger geht es. «Das ist ein Mechanismus, der sehr schnell angekickt wird», so Dr. Brunner. «Wer für wenige Tage nicht schlafen kann, kriegt Angst und macht sich Sorgen. Dann wird es noch schwerer einzuschlafen. Man landet in einer Sackgasse. Wir nehmen den Leuten diesen Druck und zeigen ihnen auf, dass häufig nicht ihr Wachsein das Problem ist, sondern was sie daraus machen. Sie glauben etwa, der Schlafbedarf bleibe stets gleich, und sie gehen von der fixen Idee aus, dass nur Durchschlafen gesund ist. Das stimmt aber nicht.» Das «Zentrum für Schlafmedizin» pflegt eine ganzheitliche Herangehensweise, betrach- tet die Ratsuchenden nicht nur aus einer medizinischen Perspektive. Das hat stark mit dem Background des Mitgründers zu tun. Denn Dr. Daniel Brunner dissertierte erst in Neurobiologie, bevor er zur Schlaf- medizin fand. Bis heute leitet ihn der For- scherblick. Forscher konstatieren, was da ist, unterteilen weniger in «krank» und «ge- sund». Bei einem gebrochenen Arm wäre diese Sichtweise wohl fatal. Bei der Schlaf- medizin, in der individuelles Fühlen und Denken sowie kulturelle Faktoren eine grosse Rolle spielen, ist der nüchterne Blick des Naturwissenschaftlers aber oft ein Se- gen. Daniel Brunner empfiehlt den Patienten (und auch ihren behandelnden Hausärzten) einen Perspektivenwechsel. «Es ist absolut normal, nach ein paar Stunden guten Schlafs wohlauf aufzuwachen. Daran ist überhaupt nichts Falsches. Und trotzdem wertet man Wachzeiten nachts als etwas Krankes, und macht daraus ein Problem.» Nur durchgehender Schlaf sei guter Schlaf: Das ist eine relativ neue Vorstellung. Früher, als unsere Gesellschaft vor allem in der Landwirtschaft tätig war, ging man mit den Hühnern ins Bett. Und erwachte mitten in