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Auswendiglernen war nie mein Ding
Text und Interview: Jeanine Tschopp Foto: zVg von Theater Fauteuil
Dass er einmal Schauspieler werden würde, war gar nicht klar, als Gilles Tschudi noch zur Schule ging. Im Ge- genteil, alles andere wäre naheliegen- der gewesen.
Der Lehrer beauftragte die Kinder, eine Bal- lade auswendig zu lernen. Er war damals im zweiten Gymnasium, elf oder zwölf Jahre alt. Er lernte nicht. Just er war es, der am nächsten Tag die Ballade hätte aufsagen müssen. Ausser zwei Zeilen konnte er gar nichts. «Das wäre deine Chance, einmal eine gute Note zu schreiben», sagte der Lehrer zu ihm. Das leuchtete ihm ein. Er ging nach Hause und hatte nichts mehr anderes im Kopf, als diese Ballade auswendig zu ler- nen. Er war sicher, dass ihn der Lehrer am nächsten Tag aufrufen würde. Tatsächlich. Er wurde aufgerufen. Nun ging es um Le- ben und Tod. Völlig verängstigt trug er das lange Gedicht vor. Er schaffte es zwar, aber anschliessend war er fix und fertig. Das ein- zige, was ihm dann noch blieb, war, sich in der Toilette einzusperren. Von diesem Tag an wusste er, dass sein Lehrer ihn bei Gedicht- und Balladenvorträgen immer wieder dran- nehmen würde. Er lernte und schrieb eine Sechs.
Der mathematische Typ
«Ja, Auswendiglernen war nie mein Ding», erzählt Gilles Tschudi (63). Heute falle es ihm leichter, weil er sich nicht mehr so stark unter Druck setze wie als Kind. «Da- heim auswendig zu lernen, gelingt mir im- mer noch nicht. Der Text kommt mit dem Proben.»
Als Bub – er ist in Basel französischspre- chend aufgewachsen – hatte Gilles Tschudi nicht nur Mühe mit Auswendiglernen, son- dern auch mit Reden und Schreiben. «Ich war nicht in der Lage, mich auszudrücken. Als Kind war ich der Beobachter. Mein Bruder war es, der das Wort hatte. Auf dem Gymnasium war ich nur, weil Mathematik für mich überhaupt kein Problem war.»
Die Motivation im Gymnasium nahm bei ihm stetig ab. Mit 17 beschloss er, an die Schauspielschule zu gehen. Er blätterte
im Telefonbuch und suchte eine Schule in Basel. Dort lernte er andere Schauspiel- schüler kennen und wechselte später an die Schauspielschule in Zürich. Dann nahm alles seinen Lauf. Er spielte in Deutschland, in Frankreich, in der Schweiz. Inszenierte selber. «Es hat sich alles ergeben. Meistens sind neue Engagements durch sogenannte Begebenheiten entstanden. Man muss ein- fach offen sein.»
Offen für alles
Er war erfolgreicher Schauspieler im klas- sischen Theater, sowohl national als auch über die Grenzen hinaus, als er angefragt wurde, die Rolle von Michael Frick in der Schweizer TV-Soap «Lüthi und Blanc» zu übernehmen. Es gab Leute, die ihm abrieten. Es hiess: «Nachher bist du Soap-Darsteller und nicht mehr Stadttheater-Schauspieler.» Gilles Tschudi aber nahm das Angebot an. Ihn reizt immer das, was er bisher nicht konnte, und nicht das, was er schon kann. Die Serie war erfolgreich und lief während acht Jahren im Schweizer Fernsehen. Seit- her ist er sowohl im Fernsehen als auch im klassischen Theater zu Hause.
Immer wieder kamen neue Ideen und Pro- jekte. Irgendwann kam auch die Anfrage vom Theater Fauteuil in Basel, bei der Vorfasnachtsveranstaltung «Pfyfferli» und später auch bei weiteren Produktionen mit- zumachen. Und dann, ein paar Jahre spä- ter, kam wieder eine Anfrage vom Theater Fauteuil. Die Familie Rasser beschloss, den «HD-Soldat Läppli» wieder aufzunehmen, der in den berühmten Filmen durch Alfred Rasser und im Theater später durch seinen Sohn Roland Rasser gespielt wurde. «Ob ich der Richtige bin, wusste ich nicht. Klar war, dass ich mein Bestes geben würde.»
Alfred Rasser zu kopieren, war für Gilles Tschudi nie eine Option. «Mein Ziel war eindeutig, HD-Soldat Läppli von innen zu verstehen. Was sind seine Motivationen? Woran denkt er? Was amüsiert ihn? So langsam in die inneren Zustände der Figur zu kommen.»
Stopp durch Corona
Dann, der HD-Soldat Läppli lief gut, das Pu- blikum akzeptierte auch einen Nicht-Rasser in dieser Rolle, die Vorstellungen waren
über Monate ausgebucht, dann kam das Virus, das alles auf den Kopf stellte.
Es gab keine Vorstellungen mehr, und Gilles Tschudi sowie das ganze Läppli-Ensemble waren in Kurzarbeit. Auch aus dieser Situ- ation machte der Basler Schauspieler das Beste. Er unterstützte einen Gemüsebau- ern im Berner Seeland, da dessen Erntehel- fer corona-bedingt nicht einreisen konnten. «Es ist alles möglich», ist die Einstellung des Schauspielers. «Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal für ein paar Monate auf dem Feld eines Gemüsebauern mithelfe. Aber es ist alles möglich.» Geld nahm der Schauspieler nicht für seine Arbeit. Er ver- einbarte mit dem Bauern, dass er lebens- lang Gemüse für den Eigenbedarf vom Feld holen darf.
Die Arbeit, auch wenn sie sehr hart war, hat den Schauspieler fasziniert. «Am Morgen mit allen Vieren zwischen dem Gemüse zu sein. Das gibt Leben. Es ist noch ganz früh, man ist müde, schneidet Salat – dann spürt man die Natur. Und genau das gibt Leben.»
Leben gebe auch die Kultur, Leben gibt es, mit anderen Menschen zusammen zu sein. Gespräche zu führen. All das verleihe Ener- gie und sei lebensnotwendig.
Genau das vermisst Gilles Tschudi in der jetzigen Situation. «Man denkt nicht ans Leben. Nein. Man konzentriert sich nur auf den Tod und wie man diesen verhindern kann. Das ist fatal. Wenn man etwas nicht verhindern kann, ist es der Tod. Also muss man nicht den Tod verhindern, sondern das Leben stärken.»
Aber auch durch das Coronavirus und die Massnahmen rund um die Pandemie lässt sich Gilles Tschudi nicht unterkriegen. Er hat auch jetzt keine leere Agenda und probt für zukünftige Projekte. Zusammen mit seinem Sohn und weiteren Schauspieler-Kollegen und -Kolleginnen nimmt er zudem Kurzfilme fürs Internet auf. Klar ist für ihn: «Ich mache immer irgendetwas.» Sobald der Frühling kommt und seine Termine es zulassen, wird er wieder dem Gemüsebauern helfen. Denn dort ist Natur. Dort, wo Natur ist, ist Leben. Und Leben brauchen wir.
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