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  Unsichtbarer Superstar
Text und Interview: Thomas Lüthi Foto links: Tomas Bubela
Fanatisierte Horden, die Daniel Hubmann zu seinen Höchstleistungen anpeit- schen, sucht man im Orientierungslauf vergebens. Jubelrufe gibt’s auch keine, wenn er einen schwer auffindbaren Pos- ten abgehakt hat. Zuschauer hat es bei den sporadischen City Sprints (wie in Ve- nedig oder Neuenburg) oder im Start und im Ziel der Wettkämpfe. Doch meistens geht er seiner Passion im Verborgenen nach – in den unendlichen Wäldern Skan- dinaviens, in den Bündner Alpen oder im tschechischen Sandstein, wo sich nicht viel Publikum hin verirrt. Eher kreuzen Wildtiere (dazu später) die Pfade von OL-Cracks. «Wir sind Idealisten», erklärt Daniel Hubmann glaubhaft über sich und seine KollegInnen. Der wohl erfolg- reichste OL-Läufer, den die Schweiz je hatte, gewann bis jetzt 28 WM-Medaillen und sechsmal den Gesamtweltcup. Mit diesem Palmarès darf man ihn getrost als Superstar bezeichnen. Trotzdem ist er nicht abgehoben. Ihn treibt nach wie vor die Leidenschaft für einen Sport, den er schon als Primarschüler ausgeübt hat.
Wie sind Sie zum OL gekommen?
Ich bin quasi familiär «vorbelastet». Meine Eltern nahmen an Läufen teil. Doch wirklich Blut geleckt habe ich dank einem Onkel – er ist/war total von diesem Sport angefres- sen. Meine ersten Wettkämpfe absolvierte ich mit 10, 11 Jahren. Das ist ja auch das Schöne am OL: man trainiert nicht lange, sondern misst sich sofort mit anderen.
Und hatten dabei sofort Erfolg ...
Ach, wo denken Sie hin. Darum ging es da- mals noch nicht. Einmal habe ich mich total verlaufen. Mit Kartenlesen haperte es noch. Ich kam vom Weg ab, verlor viele Höhenme- ter und fand nicht mehr zurück. Ich begann zu heulen und fragte vorbeikommende Läu- fer. Die ersten halfen mir nicht – die wollten gewinnen, hatten keine Geduld für einen weinenden Schulbub. Doch schliesslich erbarmte sich jemand und zeigte mir den Weg zurück.
Wann kam der Durchbruch?
Also mit 14 wurde ich zum ersten Mal Schweizermeister. Doch der echte Durch- bruch kam 2002 im spanischen Alicante. Damals wurde ich zweifacher Junioren- Weltmeister – damit hätte ich niemals ge- rechnet. Von einem Tag auf den anderen stand ich in der Öffentlichkeit. Das war an- spruchsvoll. Denn von meinem Naturell her war ich eher schüchtern. Und plötzlich war ich Thurgauer Sportler des Jahres, wurde an Empfänge eingeladen und musste Re- den halten.
Was fasziniert Sie am OL?
Die Landschaften, in denen wir uns bewe- gen, sind extrem unterschiedlich – Wälder in Skandinavien sind anders als in der Schweiz oder etwa bei der letzten WM in Tschechien. Da gab es labyrinthartige Sandsteinforma- tionen. Und trotz dieser enormen Vielfalt: Gib uns OL-Läufern eine Karte und einen Kompass und wir kommen überall auf der Welt zurecht. Es ist jedes Mal ein Abenteuer. Wer einmal OL-Läufer war, bleibt es prak- tisch sein Leben lang. Mein Onkel etwa: Er nimmt immer noch an Seniorenwettkämp- fen teil und hat dabei den Plausch.
Für alle Unwissenden: Wie muss ich mir so einen Profiwettkampf vorstellen?
Wir trainieren zwar meistens vor Ort. Aber das Wettkampfgelände ist Sperrgebiet. Es gibt auch keine Karten. Die kriegen wir erst, wenn die Zeit läuft. Sobald ich die Karte habe, verschaffe ich mir einen Überblick, suche den ersten Posten und renne los. Unterwegs gucke ich auf die Karte und lege mir die Strategie für die nächsten Posten zu- recht. Möglichst flüssig und möglichst ohne stehen zu bleiben. Das würde sonst zuviel Zeit kosten ...
Sie rennen quer durch den Wald und schauen gleichzeitig auf die Karte? Wie geht das?
Sie meinen wegen der Sturzgefahr? Nun, als Zehnjähriger blieb ich bei der Postensuche noch stehen. Aber ich mache das jetzt seit bald dreissig Jahren. In dieser Zeit habe ich einen Blick entwickelt, kann das Gelände entsprechend einschätzen: Ich gucke auf
den Weg vor mir, denke etwa «3 Sekunden bis zur nächsten Wurzel, also 2 Sekunden, um die Karte zu studieren.» Entsprechend länger Zeit dafür habe ich auf Spazierwegen – die gibt es auch manchmal.
Gefährlich wird’s also nie?
Doch schon. An einem Wettkampf in Frank- reich kamen wir in einen Sturm – da kippten Bäume um. Wir mussten abbrechen. Oder nach einem Unwetter kann ein Bächlein zu einem Strom werden. Da musst du aufpas- sen, wo und wie du rüber- oder reinspringst. Unvergesslich war eine Begegnung in Finn- land, in der Nähe der russischen Grenze. Plötzlich stand ein Bär vor mir und brüllte mich an, Distanz 20 Meter. Ich ging einen anderen Weg. Kollegen berichteten mir spä- ter, dass sie weit weg Bärenjunge gesehen hätten. Wahrscheinlich war ich der Mutter über den Weg gelaufen. Dass sie mich ver- schont hat: wirklich ein Riesenglück.
www.danielhubmann.ch
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